Es ist eine wirre Geschichte, die vom "Balkan-Express", wie die Bahn von Haiger nach Breitscheid im Volksmund genannt wurde. Sie beginnt im letzten Jahrhundert, als die wichtigste Bahn, die das Dillgebiet berührt, schon längst gebaut war: Seit 1862 fuhren Züge von Köln über Betzdorf und Dillenburg nach Gießen.
Zur Steigerung des Wohlstands setzten die umliegenden Gemeinden fortan auf das neue Verkehrsmittel. Schon 1872 wurde die erste von Dillenburg abzweigende Stichbahn eröffnet: Die zur Endstation "Nikolausstollen" im Schelderwald mir ihren Abzweigen zum "Auguststollen" und zur Grube "Prinzkessel". Sie diente zunächst ausschließlich dazu, dem Eisenerz bessere Transportmöglichkeiten zu verschaffen. Sie wurde später über Hirzenhain und Breidenbach verlängert bis nach Wallau/Lahn.
Seit 1892 gab es eine weitere Stichbahn, die von Dillenburg entlang der Dietzhölze bis nach Ewersbach, und 1902 kam noch eine Querverbindung hinzu, die von Herborn über Eisemroth, Hartenrod und Gladenbach führende Strecke, die bei Niederwalgern im Lahntal Anschluss an die Main-Weser-Bahn (Frankfurt-Kassel) fand.
Ab dem 30. April 1906 schließlich fuhren die ersten Züge vom Dilltal auf den Westerwald, und zwar von Herborn über Driedorf nach Westerburg (Westerwaldquerbahn).
Im Bereich des einstigen Dillkreises wurde im 20. Jahrhundert, nach der Eröffnung der Westerwaldquerbahn, nur noch eine Strecke gebaut: die von Haiger nach Breitscheid.
Die Verwirklichung dieses Projekts unterschied sich von denen ähnlicher Art in den Jahrzehnten vorher. Während alle vorhergehenden geplant, genehmigt und dann zügig gebaut wurden, gab es beim Bahnbau durch das Aubachtal nach Breitscheid immer wieder Hemmnisse, die aber kaum an dem Vorhaben selbst lagen. Dieser Bahnbau geriet zu einem Spiegelbild der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Wirrnisse der ersten vier Jahrzehnte des letzten Jahrhunderts.
Im Dezember 1908 ordnete der Minister für öffentliche Arbeiten an, dass zwei Stichbahnen gebaut werden sollen: die eine von Haiger über Breitscheid nach Gusternhain und die andere von Stockhausen (bei Weilburg a.d. Lahn) nach Beilstein. Vom ursprünglichen Plan einer durchgehenden, bei Driedorf die Westerwaldquerbahn kreuzenden Strecke hatte er also bereits Abstand genommen, wenn auch nicht restlos. Immerhin wurde ausdrücklich bestimmt, dass die beiden Endbahnhöfe in Gusternhain und Beilstein so anzulegen seien, dass eine spätere Verbindung jederzeit technisch möglich sei.
Schon einen Monat später, am 31. Januar 1909, ordnete Minister Breitenbach die Aufnahme der Vorarbeiten an. 1912 wurden die erforderlichen Mittel bewilligt. Am 1. April 1914 wurde die Bauabteilung Haiger eingerichtet und noch im Mai mit den Arbeiten begonnen. Doch dann kam der Donnerschlag: der Ausbruch des ersten Weltkriegs.
Die Arbeiten kamen nahezu zum Erliegen. Da jedoch die Arbeiter schon an verschiedenen Stellen fleißig gewesen waren, waren einige Bauwerke fast fertig, neben einigen Brücken unter anderem das Empfangsgebäude für den Bahnhof Breitscheid. Dieses sollten die Schienen jedoch nie erreichen, wie wir heute wissen.
Deutliche Fortschritte beim Streckenbau gab es erst wieder nach dem Ende des ersten Weltkrieges 1918 zu verzeichnen. Auch wenn der Friede wieder eingekehrt war, so gab es noch andere Wirren, wie zum Beispiel die Inflationszeit zu Beginn der 20er Jahre, zu meistern.
Noch nicht einmal ein Drittel der ursprünglich ins Auge gefassten Strecke war bis zum Frühjahr 1926 fertiggestellt worden. Auf Nachhaken der Anlieger zeigte die Deutsche Reichsbahn Gesellschaft guten Willen und sagte zu, die Strecke bis zum Jahresende wenigstens behelfsmäßig bis zum Bahnhof Rabenscheid zu vollenden.
Was lange währte, wurde im Dezember 1926 wenigstens teilweise gut. Am 14. des Monats wurde die Strecke eröffnet, wenn auch noch nicht bis Breitscheid, wo das Bahnhofsgebäude nunmehr seit über 12 Jahren auf den Schienenanschluss wartete. Die Endstation hieß erst einmal Rabenscheid, und so sollte es abermals noch länger als ein Jahrzehnt bleiben.
Auch der Name für diese Station war ein Kuriosum. Denn dieser Bahnhof war nur wenige Meter vom damaligen oberen Langenaubacher Ortsrand erbaut worden. Für viele Bewohner dieses Dorfes war der Fußweg hierher kürzer als zu der Haltestelle, die den Namen Langenaubachs trug, denn die Stand am unteren Ortsende. So wären Bezeichnungen wie "Langenaubach-Süd" und "Langenaubach-Nord" eigentlich am trefflichsten gewesen. Aber die Rabenscheider ließen es sich damals nicht nehmen, ihren eigenen Bahnhof zu bekommen - auch wenn er über 3 Kilometer von ihrem Ort entfernt stand.
In der öffentlichen Diskussion blieb die Weiterführung der Strecke. Aber Parlamentsanfragen und -beschlüsse, Bürgerversammlungen und Eingaben brachten in den nächsten Jahren keinen Erfolg mit sich. Preußens Handelsminister sah 1929 keinerlei Chancen wegen der angespannten Finanzlage. Erst zwei Jahre später zeigte sich wieder ein kleiner Hoffnungsschimmer am Horizont, als der Kreistag die Weiterführung zunächst bis Breitscheid ins Auge fasste. Dies aber nicht nur um den in und um Breitscheid ansässigen Unternehmen endlich den langersehnten Bahnanschluss zu bringen, sondern in erster Linie als eine Art Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für die vielen Langzeitarbeitslosen dieser Zeit. Jedoch hielt in einem Gutachten die Reichsbahndirektion Frankfurt a.M. die Weiterführung für nicht rentabel, weshalb es erst einmal weiter ruhig blieb um das Projekt.
Die Ironie des Schicksals wollte es, dass ausgerechnet mit Hitlers Machtübernahme 1933 wieder Bewegung in die Sache kam. Der Durchbruch zur Verwirklichung des Vorhabens war dann am 4. Juli 1934 geschafft, als der Beirat der Industrie- und Handelskammer Siegen-Olpe-Dillenburg verkündete, dass die Reichsbahnhauptverwaltung von 13 vorgelegten Eisenbahn-Plänen als einzige den Bahnbau Rabenscheid - Breitscheid genehmigt habe.
Die Reichsbahnverwaltung dachte jetzt unter neuen Gesichtspunkten über die Rentabilität der zu bauenden Bahnstrecke nach. Im Mittelpunkt standen dabei die Vereinigten Stahlwerke mit ihrem Betrieb bei Medenbach. Hier wurden vor allem Kalksteine gebrochen, die seither per Seilbahn "über die Berge" an Donsbach vorbei bis zum Haigerer Bahnhof befördert und dort auf Güterwagen verladen wurden.
Auch sah man in den vielen Bodenschätzen rund um Breitscheid einen weiteren Grund für den Weiterbau der Strecke. Am 15. Mai 1935 hat der Verwaltungsrat der Deutschen Reichsbahn die Reichsbahnhauptverwaltung dann zur Verlängerung der "bestehenden Nebenbahn Haiger - Rabenscheid bis Breitscheid" ermächtigt.
Nachdem dann endlich auch die Finanzierung geregelt war, wurde in der Medenbacher Gemarkung Anfang März 1936 der erste Spatenstich für die 4,4 Kilometer lange Streckenverlängerung getätigt. Zwischen dam Bahnhof Rabenscheid und der Station Medenbach galt es freilich noch einen Berg zu untertunneln. Mehr als 1100 Meter lang werden sollte der Tunnel und damit im Dillkreis zum zweitgrößten nach dem zwischen Dillbrecht und Rudersdorf, der seit dem ersten Weltkrieg Haiger direkt mit Siegen verband. Bei dem Tunnelbau, der ebenfalls im März 1936 begonnen wurde, waren bis zu 420 Arbeiter im 3-Schichtbetrieb rund um die Uhr beschäftigt.
Gut 3 Jahre später, im Frühling 1939, lagen die Arbeiten für die Streckenverlängerung bis Breitscheid in den letzten Zügen. Das Reststück bis Gusternhain, das lange im Gespräch war, war aber gestorben, und erst recht natürlich die Knotenverbindung bei Driedorf, die die Strecke mit der Westerwaldquerbahn und der Bahn verbinden sollte, die von Stockhausen im Lahntal kommend über den Westerwald bis Beilstein führte.
Am 15. Mai 1939 war es dann endlich soweit: Der erste Zug lief im einem provisorisch angelegten Behelfsbahnhof am Ortsrand von Breitscheid ein. Das eigentliche Breitscheider Bahnhofsgebäude im Schwarzen Weg, das schon vor einem Vierteljahrhundert fertiggestellt worden war, lag jedoch noch ca. 1,5 km weiter. Diesen "richtigen" Breitscheider Bahnhof wollte man zu einem späteren Zeitpunkt fertig stellen - dazu sollte es jedoch nie kommen: Keine 4 Monate später brach der 2. Weltkrieg aus und begrub jegliche Hoffnung auf die endgültige Fertigstellung.
Genau 5 Jahre nach der Eröffnung, am 15. Mai 1944, wurde dann der Zugverkehr zwischen Rabenscheid und Breitscheid wieder eingestellt, und zwar bis auf weiteres und ohne offizielle Begründung. Die sog. "Holzwerke Rabe" hatten sich im (bombensicheren) Tunnel niedergelassen. Dass es sich bei dieser Firma nicht um einen Gartenmöbelhersteller handelte, ahnten die Menschen in den umliegenden Gemeinden damals schon. In Wirklichkeit wurden hier Flugzeugmotoren für Hitlers Kriegsmaschinierie gefertigt. Gerüchte sprechen sogar davon, dass hier Teile der "V1-" und "V2-" Raketen hergestellt worden sein sollen.
Nachdem dann Anfang 1945 infolge des Krieges der Verkehr auch auf der restlichen Strecke bis Rabenscheid zum erliegen gekommen war, war dieser Teil der Strecke bis zum Frühjahr 1946 wieder instandgesetzt worden, so dass wieder Züge rollen konnten. Den Tunnel wieder für den Streckenbetrieb herzurichten, dauerte dagegen wesentlich länger: Erst im Februar 1949 wurde der Verkehr auch auf der restlichen Strecke bis Breitscheid wieder aufgenommen.
In diesem Jahr wurde die Strecke auch noch um ca. 800 m über den Breitscheider Behelfsbahnhof hinaus verlängert, und zwar bis zur Firma "Westerwälder Thonindustrie", die damit endlich ihren langersehnten Bahnanschluss bekam und damit Ihre Seilbahn, die zum Bahnhof Niederdresselndorf an der Hellertalbahn führte, stilllegen konnte.
Das Schicksal, das die Strecke in den Jahrzehnten nach dem Krieg erlebte, ist vergleichbar mit dem ungezählter Nebenstrecken im Netz der DB. Durch die zunehmende Konkurrenz auf der Straße verlor die Strecke immer mehr an Bedeutung, sodass ab 1969 die Anzahl der verkehrenden Züge immer weiter ausgedünnt wurde. Ab Sommer 1979 verkehrten werktags nur noch drei Personenzugpaare zwischen Haiger und Breitscheid.
m Jahr 1977 hatte man noch für eine Million Mark die große Talbrücke bei Flammersbach von Grund auf saniert; aber schon im zum 31. Mai 1980 wurde der Personenzugverkehr auf der "Balkan-Strecke" eingestellt.
Der Güterverkehr blieb der Strecke dann noch über 17 Jahre erhalten, dies nicht zuletzt wegen der Firma Hailo in Flammersbach, die bis zum Schluss täglich durchschnittlich 38 (!) Waggons abfertigte. Auch diverse Firmen in Breitscheid, am Medenbacher und Rabenscheider Bahnhof hatten hin und wieder Wagenladungen, so dass i.d.R. täglich zwei Güterzüge auf der Strecke verkehrten.
Obwohl seitens der Anliegerfirmen weiter Bedarf für die Schiene da gewesen wäre, wurde der Gesamtverkehr dann zum 30. September 1997 von der DB eingestellt.
Bis zu diesem Tage gab es zahlreiche Sonderfahrten auf der Strecke, teilweise sogar mit Dampfloks.
Im Jahre 2006 hat man schließlich mit dem Abbau der Gleise begonnen, sodass die noch im Jahre 2004 in Erwägung gezogene Nutzung der Strecke als Museumseisenbahn für Draisinen endgültig ad acta gelegt werden kann.
Eingesetzte Triebfahrzeugbaureihen
Von der Eröffnung bis in die frühen sechziger Jahre hinein wurde der Betrieb fast ausschließlich von Dampfloks der Baureihen 55 und 93 des Bw Dillenburg bewältigt. Hin und wieder verirrte sich auch mal eine 94er, ebenfalls aus Dillenburg, auf den Westerwald.
In den fünfziger Jahren kam dann mehr und mehr die Baureihe 50 dazu und löste die älteren Baureihen ab.
Ab 1954 wurden die ersten Schienenbusse (VT 95, später VT 98) eingesetzt, die die lokbespannten Personenzüge bis Anfang der siebziger Jahre komplett verdrängten.
Im Güterverkehr übernahmen ab den sechziger Jahren immer mehr Dieselloks der V 100-Familie Leistungen. Selten verirrte sich auch mal eine V 160 oder V 200 auf die Strecke.
Die V 100 (ab 1968 211, 212 oder 213 genannt) prägte schließlich bis zur Einstellung des Gesamtverkehrs das Bild auf der Balkan-Strecke, wovon die vielen Bilder meiner Fotodokumentation zeugen.
Quelle: Dill-Zeitung u.a.
Links
Der Balkanexpress auf der Seite von Gerhard Lingenberg
Eisenbahnen im Westerwald
Strecke Haiger–Breitscheid auf wikipedia
Presseartikel